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Lieber ein Ende mit Schrecken

«Vom Ende der Landwirtschaft» spannt den Bogen von der Entstehung unseres Planeten bis weit in die Zukunft. Wenn wir als Menschheit durch den Flaschenhals der gegenwärtigen Krisen schlüpfen wollen, braucht es eine Postlandwirtschaftliche Revolution: Weg vom Acker, ab in den Bio-Reaktor. Das mutet nach Sci-Fi an, ist aber überraschend überzeugend.
Rezension Vom Ende der Landwirtschaft(1)

Kennst du das: Der Kopf stimmt einer Argumentation zu, folgt ihr zunehmend begeistert. Das Bauchhirn hingegen grummelt, sendet ablehnende Signale zur Grosshirnrinde. So ging es mir bei dieser Lektüre.
Der Soziologe Oliver Stengel hat ein faszinierendes Sachbuch geschrieben. Leicht lesbar, mit unzähligen Quellen belegt, führt es die Leserschaft von einer kosmischen Perspektive bis in die Details der zellfreien Proteinherstellung. Es ist ein wilder Ritt durch Zeit und Raum, doch Stengel vergaloppiert sich kaum. Vielmehr breitet er auf nur 220 Seiten aus, wie «wir die Menschheit ernähren und die Wildnis zurückkehren lassen.»

Die Krisen und ihre Lösung

Dass sich die Menschheit auf bestem Weg befindet, die eigene Zivilisation zu ruinieren, schildert der Autor in knappen Zügen. Klimakrise und Artensterben schwemmen uns in einen «kosmischen Flaschenhals». Das zu lösende Problem ortet er in der Land- und Viehwirtschaft, die zwar die Grundstoffe für unsere Ernährung hervorbringt, aber auch ein zentraler Treiber der Krisen ist.
Auf eine globale Änderung der Ess- und Konsumgewohnheiten binnen einer Generation zu zählen, sei zu riskant. Ersetzen wir hingegen tierische Lebensmittel mit Fleisch, Milch und Käse aus dem Bio-Reaktor, entlasten wir nicht nur den Planeten, sondern auch unser schlechtes Gewissen wegen der Massentierhaltung. Überlassen wir dann die weltweiten Weideflächen und die Anbauflächen für Viehfutter der Natur, wird sich diese erholen – und zwar im grossen Stil, denn es geht um 26 Prozent der gesamten globalen Landfläche!

Die Technosphäre rückbauen

Doch die Postlandwirtschaftliche Revolution ist damit noch nicht geschafft. Zu ersetzen wären auch die jährlich fünf Mrd. Tonnen der Top-6 Cash-Crops (Zuckerrohr, Weizen, Mais, Reis, Kartoffel, Soja). Analog zu den tierischen Lebensmitteln, beschreibt Stengel das Verfahren dazu so: «Man entnimmt dem Organismus etwas Gewebe, isoliert daraus Stammzellen, züchtet weitere daraus und steckt diese in einen Bio-Reaktor, wo sie differenziert und massiv vermehrt werden.»
Zwar ist die Technologie noch nicht in allen Bereichen soweit, aber das Biotech-Knowhow entwickelt sich rasch, gewinnt man anhand vieler Beispiele den Eindruck. Unter dem Strich könnte in wenigen Jahrzehnten tatsächlich ein bedeutender Teil der globalen Ernährung aus solchen Quellen kommen.

Wollen wir das? Oder müssen wir?

Zurück zu meinem Bauch. Seine grimmigen Signale gehen wohl auf meine engen, emotionalen Beziehungen zu natürlich gewachsenen Lebensmitteln zurück. Ich bin in der privilegierten Lage, hochwertige Zutaten für das tägliche Menu zu kennen und Zeit zum Kochen zu haben. Ich helfe auf dem Acker, wo meine wöchentliche Gemüsetasche heranwächst. Kenne einzelne Betriebe und die Menschen dahinter.
Also wtf soll ich mit diesem Retortenbrei anfangen!? Falsche Frage: Es geht nicht um meine Nische, sondern ums grosse Ganze. Der 2008 erschienene Weltagrarbericht fordert ebenso eine Wende, allerdings eine agrarökologische im Dienste von Kleinbauern. Sind die Widerstände dagegen innert nützlicher Frist zu überwinden?
Meiner Meinung nach braucht es beides: Eine kleinteilige, biologische und klimapositive Produktion für die Nahversorgung (das Jäten überlasse ich gerne den Robotern), ergänzt durch bodenunabhängige Farmen in Städten. Und Bio-Reaktoren in Millionenauflage, um die hungrige Menschheit mit Burgern & Chips sowie Federkohl-Smoothies & Erbeereis zu füttern. Meine Vorbehalte gegenüber der Gentechnologie lasse ich aussen vor, solange die Produktion hors sol und gut abgeschirmt ist.
Die Postlandwirtschaftliche Revolution wird wohl eher eintreffen als die agrarökologische Wende – denn es lässt sich damit richtig fett Geld verdienen.